Transkription der Veranstaltung

Ich möchte kurz das Programm erklären. Es wird drei kleine Inputs geben: Ein Gedicht von Ida Ospelt-Amann wird vorgetragen, einen kleinen Vortrag über Öffentlichkeit im Allgemeinen wird es geben, weil das ein recht luftiger Begriff ist und dann noch einen präziseren Input über öffentliche Diskussion in Liechtenstein. Danach werden wir einen kleinen Workshop machen und wir bitten euch jetzt, die weissen Kärtchen, die ihr neben euch habt, kurz in die Hand zu nehmen und euch während dieser kleinen Inputs zu überlegen: #00:01:01-3# 

Wo trefft ihr andere Menschen, wo bildet ihr euch eure Meinungen zu gesellschaftspolitischen Themen oder was sind für euch Treffpunkte? #00:01:06-0# 

Wir werden diese danach etwas verorten. Einfach inspiriert von dem, was passiert mitschreiben – ihr habt zwei Kärtchen. #00:01:20-7# 

Dann möchten wir noch kurz drauf hinweisen: Es wird aus allen Richtungen gefilmt und fotografiert. Wenn jemand aus Datenschutzgründen nicht auf den Fotos sein möchte bitten wir euch, uns das mitzuteilen. #00:01:35-4# 

Dann möchte wir noch allen, die uns unterstützt haben einen Dank aussprechen. Das ist die Gemeinde Vaduz – äh Balzers, natürlich, die sehr grosszügig gewesen ist und uns zudem diesen Raum überlassen hat. Die Kulturstiftung Liechtenstein, die VPBank-Stiftung und die Stiftung Fürstlicher Kommerzienrat Guido Feger. #00:02:03-1# 

Ich glaube das wäre es – dann würden wir mit den ersten drei Inputs anfangen. Die sollten insgesamt höchstens eine halbe Stunde gehen. Danach gibt es den kurzen Workshop und anschliessend gibt es noch Barbetrieb mit DJ Flamingo am DJ-Set und Joe hinter der Bar. So wird bis elf sozusagen in informeller Öffentlichkeit weitergehen. #00:02:21-4# 

Jetzt fangen wir an und ihr werdet euch alle gefragt haben, wer von uns Ida Ospelt-Amann ist und es ist der halbe Vaduzer Toni Büchel. Er trägt uns dieses Gedicht darüber vor, wie man Öffentlichkeit bei uns im Land einmal verstanden hat und immer noch gerne referenziert. #00:02:35-1# 

Wie ihr dort hinten auch schön auf dem Bild seht hat das Benkle voräm Huus in alten Zeiten bekanntlich als Treffpunkt aber auch als Ort, wo man sich ausgetauscht und Meinungen gebildet hat eine sehr grosse Rolle gespielt. Die Vaduzer Mundartschriftstellerin Ida Ospelt Amann hat dazu ein Gedicht mit dem Titel s Benkle voräm Huus geschrieben.  #00:05:20-2# 

(…) #00:05:42-0# 

Gedicht s Benkle voräm Huus. #00:05:36-3# 

Das war das erste Gedicht, das bei uns vorgetragen wurde – sehr schön. #00:05:30-7# 

Jetzt gibt es einen kleinen Input zu Öffentlichkeit im Allgemeinen und öffentlichem Raum. Ich werde jetzt einfach etwas herumspazieren, ihr müsst euch halt etwas drehen im Raum. Und  zwar werde ich sehr grobschlächtig Konzepte und Ansätze dazu, was öffentlicher Raum im Allgemeinen sein kann über die Geschichte der Menschheit und Liechtensteins versuchen zu umreissen. Ich bin kein Historiker und das werdet ihr auch merken, darum mache das ich und nicht Toni – weil es sehr grobschlächtig ist. #00:05:55-3# 

Also – vor 7227 Jahren gab es in Liechtenstein ungefähr hundert Leute. Jeder hatte so ein bisschen sein Feld, beackerte seinen Acker und jagte da und dort ein Mammut aber man hatte nicht so viel miteinander zu tun. Ungefähr alle fünfzig Jahre ist es passiert, dass es viel regnete, der Rhein über seine Ufer trat und viele Kühe ertranken und grosses Leid über Liechtenstein kam. #00:06:28-0# 

Eines Tages hat ein Ruggeller einen Balzner getroffen und sie sagten zueinander: Da müsste man doch etwas machen. Komm wir gründen einen Verein gegen Rheinüberschwemmungen.“ Dass sich zwei Leute in einer Konversation treffen und eine Institution gründen ist eine Definition von Öffentlichkeit von Jürgen Habermas aus den Sechzigerjahren. Das war der erste Akt von Öffentlichkeit in Liechtenstein in meiner Geschichtsschreibung. #00:07:01-5# 

Aber Prinzipiell ist beispielsweise auch dass Toni und ich einen Verein gegründet haben das Schaffen von Öffentlichkeit – einer kleinen aber immerhin einer Öffentlichkeit. #00:07:10-1# 

Auf jeden Fall war es dann so, dass die beiden zurück in ihre Dörfer gingen und anderen Leuten sagten „Du, wir würden noch gerne dieses Problem mit dem Rhein bekämpfen, seid ihr dabei?“ Dann fingen alle an mitzureden. „Ja doch, eigentlich ein gutes Konzept, das müsste man machen, irgendetwas läuft da falsch.“ Ein anderer meinte, man müsse Opfergaben bringen, wieder ein anderer sagte man müsse Krieg gegen die Bündner führen, da komme das Wasser her. Einer entgegnete darauf, wenn man jetzt einen Damm baue, nütze das nur den Österreichern etwas. #00:07:43-8# 

So waren die Diskussionen recht vielfältig und es bildete sich ein öffentlicher Raum, weil mehrere Leute ihre Meinungen austauschten, auch mit Leuten, die sie davor nicht kannten. #00:07:57-2# 

Das ist wiederum die Definition eines Amerikaners John Dewey, der sagte, Öffentlichkeit bilde sich dann, wenn man ein Problem habe und das in einer Gemeinschaft lösen müsse, die jetzt nicht die eigene Familie oder der Nachbar sei – wenn man sich also über seinen Bekanntenkreis hinaus gemeinsam einem übergeordneten Problem annehme. #00:08:20-1#

Was passiert, wenn man so Diskussionen führt? Hannah Arendt fasste das in einem schönen Bild. Man kann sich vorstellen, man sitze um einen Tisch. Der Inhalt der Diskussion ist das, was einen zusammenbringen aber auch auseinander treiben kann. Wie hier drinnen, wo man um ein Modell sitzt – das ist das Ding, über das man redet und durch das Gespräch, durch die Initiative entsteht Öffentlichkeit. #00:08:49-0# 

Sind jetzt alle glücklich darüber, dass so viele Leute miteinander reden? Natürlich nicht. Das hat auch Hannah Arendt herausgearbeitet, dass es beispielsweise Monarchen gab, die das nicht so witzig fanden. Auch Tyrannen finden natürlich, wenn sich Leute anfangen zu unterhalten, unterhalten sie sich auch darüber, wieso nicht schon längst ein Rheindamm gebaut wurde, wer eigentlich zuständig sei und es werden Machtverhältnisse in Frage gestellt. #00:09:06-0# 

Man sieht hier: Wenn Diskussionen stattfinden entsteht viel Energie und es können grosse Dynamiken entstehen und darum sagt Hannah Arendt in Bezug auf alte Zeiten, dass das bei den Machthabenden nicht immer besondres beliebt sei. Heute ist das insgesamt wohl etwas entspannter. #00:09:29-9# 

Was hat sich nun in den letzten 7000 Jahren verändert? #00:09:33-0# 

Vor 7000 Jahr – vor 200 oder 100 Jahren lebten wir in Dörfern, jeder redete in seinem Haus etwas mit der Familie und ging dann irgendwann aus dem Haus hinaus und fing an sich mit dem Nachbarn oder mit Leuten aus dem Nachbardorf auszutauschen. Damit ist er vom privaten in den öffentlichen Raum getreten. Diese beiden Sphären waren in dem Sinne noch relativ klar getrennt. Bei Jägern und Sammlern war das noch etwas anders aber bei sesshaften Gesellschaften, wie sie hier in den letzten Jahrtausenden gelebt haben, ist das ungefähr das Bild des öffentlichen Raums. #00:10:03-2# 

Das ist noch immer das Bild, das wir heute haben. Deshalb baut jede Gemeinde einen Dorfplatz und hofft, dass die Leute dort dann Sachen diskutieren. Und viele Gemeinden mussten lernen, dass du einen Dorfplatz bauen kannst aber irgendetwas sich verändert hat und die Leute nicht mehr kommen, um diese Dinge zu diskutieren. #00:10:29-2# 

Was hat sich nun verändert? #00:10:30-2# 

Man könnte sagen, dass sich in den letzten 7000 Jahren zwei Sachen wesentlich veränderten. Erstens vergrösserte sich die Weltbevölkerung von rund einer Million auf gut acht Milliarden – und auf einmal kann man nicht mehr zu siebt oder sagen wir zu Hundertst zusammensitzen und besprechen, was man nun mit dem Rheintal machen soll. Jetzt gibt es auf einmal 38’000 Menschen in Liechtenstein. #00:10:53-7# 

Eine weitere Erfindung sind die Medien. Insbesondere das Liechtensteiner Vaterland, das Volksblatt, 1 FLTV und das Radio L – nehmen eine Vermittlerrolle ein und schaffen damit eine neue Dynamik, um mit vielen Menschen zu kommunizieren und diesen grossen Komplex, den ganzen Staat und seine Menschen irgendwie in eine Verbindung zu einander setzen. #00:11:06-0# 

Und hierzu hat ein anderer interessanter Philosoph, Villém Flusser, eine interessante Theorie entwickelt. Was sich dabei wesentlich veränderte ist, dass Kabel in die Häuser gezogen wurden – er redete dabei natürlich noch vom letzten Jahrhundert. Eigentlich sassen die Leute nachher vor dem Fernsehen und saugten öffentliche Meinungen auf. Er sagte es gäbe keine Häuser mehr sondern nur noch Ruinen. Auch öffentliche Räume gäbe es keine mehr. In den Häusern gäbe es keine Privatsphäre mehr und draussen gäbe es keine echte Öffentlichkeit mehr. Das ist natürlich etwas dramatisch ausgedrückt aber man muss schon sagen, dass Medien einen grossen Einfluss haben und das heute umso dramatischer ist, nachdem wir die Verbindung zur ganzen Welt in der Hosentasche tragen. #00:11:56-5# 

Was passiert, wenn es an sich solche Medien gibt? Am Anfang machte man sehr dramatische Erfahrungen, als es beispielsweise in Deutschland auf einmal möglich war, dass eine öffentliche Figur via Radio in der eigenen Küche sitzt und zu einem spricht. Man war emotional überhaupt nicht auf das vorbereitet und hatte sich nicht daran gewohnt. Und man sagt – ich meine Adorno hat das so formuliert – dass das eine wichtige Bedingung dafür war, dass Faschismus überhaupt entstehen konnte: Weil auf diese Direktheit eines super charismatischen Typen in der eigenen Küche die Leute emotional gewissermassen überrollte. #00:12:40-5# 

Das hat sich mittlerweile natürlich etwas ausnivelliert und inzwischen haben wir alle eine gewisse Distanz dazu, was im Fernsehen passiert. Aber trotzdem gibt es diese Dynamik noch: Es gibt eine Botschaft, die gleichzeitig an alle Leute hinausgeht. Um ein fiktives Beispiel zur Veranschaulichung zu nennen: Wir alle lesen am Morgen die Zeitung und dort heisst es auf einmal, zur Erinnerung an das dreihundertjährige Bestehen eines fiktiven Landes werde eine Brücke in einen Wald gebaut. Alle denken sich: what? Die Information kam so schnell und unerwartet, dass sie viele Reaktionen nach sich zieht. In unserem Fall kam diese in Form von Leserbriefen. Aber das Prinzip ist, dass auf einmal Leute beginnen, den Rest der Gesellschaft zu fragen, was hier läuft und festzuhalten, dass es das ja nicht sein könne und es entsteht ein öffentlicher Diskurs. #00:13:28-0# 

Leserbriefe – vielleicht spricht Christian das noch an – sind allgemein interessant. Denn sie generieren eine Öffentlichkeit und es gibt vielen das Gefühl, dass es die Öffentlichkeit in Liechtenstein sei, dass das ein Abbild der Stimmung sei. Wenn man aber einmal genauer hinsieht merkt man, dass es nur eine Hand voll ist und nicht 38’000 – es sind meistens dieselben, die regelmässig Leserbriefe schreiben, plus noch ein paar andere. Trotzdem ist es eine dominante Öffentlichkeit in unserer Wahrnehmung davon, was Liechtenstein denkt und fühlt. #00:13:54-2# 

Das ist eine recht lokale Dynamik bei uns. Andererseits ist es strukturell ähnlich wie man es natürlich auch aus den sozialen Medien kennt. Leserbriefe sind aber natürlich nur eine Öffentlichkeit von vielen anderen. Habermas hat dazu Untersuchungen gemacht, hat Kaffeehäuser beschrieben, Vereine, Salons, wo man sich so klischeehaft trifft und philosophische und politische Diskussionen führt. Er ist relativ harsch dafür kritisiert worden, weil wir – wie wir alle wissen – in den meisten Fällen keine rationalen Diskussionen darüber führen, was sich in der Politik ändern müsste, wenn wir im Kaffeehaus sitzen. Teilweise ist das vielleicht so, meistens aber wohl nicht. #00:14:42-4# 

Was in seiner Beschreibung der Öffentlichkeit interessant war ist, wer eigentlich an diesem Tisch sitzt. Über Jahrtausende waren es eigentlich reiche, alte Männer. In der griechischen Agora, dem öffentlichen Raum per se, angefangen: In der Agora sassen genau die Leute, die es sich leisten konnten, über Politik zu reden. Arbeit war in der Zeit sehr schlecht angesehen und das heisst, Leute, die einen Haushalt hatten, die ausreichend Sklaven hatten, dass sie sich nicht um Alltägliches kümmern mussten, dorthin gehen und Politik machen konnten. Das schloss und schliesst bis heute extrem viele Leute aus, auch wenn sich die Gruppen und die Bedingungen, ihnen anzugehören, immer wieder etwas verändern. #00:15:19-2# 

Auch das ist noch etwas ein Idealbild: Es gibt verschiedene Öffentlichkeiten, die alle irgendwie miteinander verbunden sind und gegenseitig überlappen. Man ist einem Verein und muss auch in der Familie Kompromisse finden usw., aber eigentlich ist es eine Gesellschaft und es gibt eine positive Dynamik. #00:15:30-4# 

Es gibt in der Realität andere Bilder, wie beispielsweise hier hinten. Man erkennt hier die „Blasenöffentlichkeit“, die bei uns auch relativ eindrücklich ist, wenn man ab und zu die Zeitung und dort besonders die Leserbriefspalten liest. Manchmal fragt man sich da dann, auf welchem Planeten die verschiedenen Personen leben – und denkt sich wohl nicht auf demselben wie ich. Dort wird offenbar, dass sich komplett andere Informationsflüsse, komplett andere Gemeinschaften und Referenzen, die dort greifbar werden. #00:15:59-9# 

Das geht relativ weit: Einmal gab es einen Fall, wo der Chef des WEF in Davos, der täglich mit den Präsidenten der Welt oder wem auch immer kommuniziert, auf einen Leserbrief von Urs Kindle antwortete, der den Weltkommunismus vor der Welt stehen sieht. Solche dramatischen Dynamiken sind eigentlich unglaublich und eigentlich nur durch die viel, viel komplexere Vernetzung, die im 20. Jahrhundert passiert ist und heute umso stärker passiert, möglich. #00:16:30-7# 

Das ist natürlich ein etwas dystopisches Bild: Die Gesellschaft fällt auseinander und jeder ist in seiner Filterblase fragmentiert. Ob das so ist oder nicht kann man nicht abschliessend sagen – auf alle Fälle möchte ich noch mit einer positiven Note enden. #00:16:47-7# 

Das ist weniger eine Bestandsaufnahme sondern mehr ein Vorschlag einer belgischen Politikwissenschafterin namens Chantal Mouffe. Sie ist eine ziemlich links, fast radikale Person und merkte, dass unser Problem nicht ist, ob ich richtig oder falsch liege – sondern dass ich die anderen gar nicht mehr wahr oder ernst nehme. Sie hat dann gemeint, das Problem sei, dass wir in einer antagonistischen Gesellschaft lebten, und andere Meinungen nicht mehr ernst nähmen oder reflektierten. #00:17:23-4# 

Eine sinnvolle Öffentlichkeit müsse zuerst einmal festlegen, dass wir uns im gleichen Rahmen bewegen und akzeptieren, dass eine andere Person komplett anders denkt und vielleicht den Weltkommunismus vor der Türe stehen sieht. Aber man müsse diese Person zuerst einmal ernst nehmen und ihre Perspektive respektieren, um irgendwie wieder einen Kontakt herstellen und auf einer gemeinsamen Plattform diskutieren zu können. #00:17:49-6# 

Gut, jetzt bin ich am Ende meiner 7000-jährigen Geschichte. Ich hoffe ihr habt eine Idee der Entwicklung der Öffentlichkeit in Liechtenstein bekommen. Jetzt übergebe ich an Christian Frommelt. #00:18:07-3# 

Du hast jetzt eigentlich einiges gesagt, was ich eigentlich auch sagen wollte. Den theoretischen Teil lasse ich deshalb weg, den hast du wirklich schon sehr gut abgedeckt. #00:18:20-9# 

Ich wollte eigentlich mit einem Beispiel starten, das ich am Montag erlebt habe. Am Montag nach diesem Abstimmungssonntag wurde ich von 1FLTV eingeladen. Ich war gerade am Weg zum Studio als mich eine Person überfiel, ich kannte sie nicht, und mir sagte, ich müsse hier nichts analysieren. Die Regierungsparteien müssten sich einfach zu einer neuen Partei zusammenschliessen, konkret der „AVVP“, also „am Volk vorbei Partei“, mehr gäbe es zu diesem Wahlausgang nicht zu sagen. Das war seine Botschaft und das hat mich heute motiviert, dass wir heute noch etwas diskutieren können, was Öffentlichkeit ist und wie stark das Volk sich darin einbringen können sollte. #00:19:04-9# 

Dabei sehen wir uns bereits wieder mit der Problematik konfrontiert, auf die du bereits hingewiesen hast: Wenn es „ein Volk“ gäbe, gäbe es nicht so viele Teilöffentlichkeiten. Das ist etwas, was man in den letzten Jahren immer wieder gesehen hat und die Wissenschaft auch klar nachweist: Dass es nicht mehr „die Öffentlichkeit“ gibt sondern eben sehr viele Teilöffentlichkeiten. Und die Frage oder die Herausforderung, die wir jetzt haben ist wohl: Inwiefern liegt diese Teilöffentlichkeiten eine gemeinsame Realität zugrunde. Und das ist eben wichtig wenn es darum geht, diese Teilöffentlichkeiten in einem politischen Diskurs wieder zusammenzubringen. #00:19:45-7# 

Und das ist ja genau der Sinn und der Zweck einer Öffentlichkeit – du hast es ja bereits etwas definiert vorher – die Öffentlichkeit findet irgendwo zwischen der privaten Sphäre und der staatlichen Autorität statt und kann definiert werden als kommunikativer Raum für Debatten über kulturelle, politische und soziale Themen. Es ist wirklich ein Raum für Diskurs. #00:20:10-5# 

Die Öffentlichkeit hat sich in den letzten Jahren verändert. Ganz stark hat sie sich mit den neuen Medien gewandelt, und ist mit Digitalisierung und Globalisierung vorangetrieben worden. Du hast vorher das WEF erwähnt und den Leserbrief von Urs Kindle – wenn ihr heute die Zeitung gelesen habt war auch ein Leserbrief von Urs Kindle mit dem Titel „Aufruf zur Entsklavung“. Dort hat er es geschafft, den Abstimmungssonntag wieder in den Kontext des Weltkommunismus zu stellen. #00:20:40-0# 

Da sieht man: Es ist ein grundlegendes Problem, das Liechtenstein erlebt. Ich habe letztens einen Vortrag zum Thema Populismus gemacht, wo man das ja auch merkt. Bei uns ist die Öffentlichkeit oder die politische Debatte – oder gerade das Populistische in der öffentlichen Debatte bei uns – nicht getrieben von den Politikern, wie wir es in anderen Ländern kennen, wo wirklich Agitation betrieben wird. Bei uns ist das Populistische meistens etwas, das Leute in einem Leserbrief in die Diskussion bringen und meistens einen grenzüberschreitenden Bezug hat. Letztes oder vorletztes Jahr hat man das ganz stark in der Diskussion um den Migrationspakt gesehen, wo ein Diskurs stattgefunden hat, der von unseren Nachbarstaaten heuübergeschwappt ist – ganz stark aus Österreich – und hier dann auch sehr präsent war. Er ist in den Leserbriefen geführt worden und die Politik hat dann vor der Landtagssitzung, bevor sie eigentlich über den Migrationspakt diskutiert hätten, bevor also die politische Debatte stattgefunden hat, hatten beide Fraktionen bereits eine Fraktionserklärung zu diesem Migrationspakt abgegeben. #00:21:49-3# 

Da hat man richtig gemerkt – das ist sicher ein Sonderfall, wahrscheinlich wirklich ein Ausnahmefall – wie stark eine Leserbriefdebatte auf die Politik rückwirken kann. #00:22:07-8# 

Mein Vorgehen ist etwas unsystematisch aber ich versuche darin etwas, deine Punkte aufzugreifen. #00:22:15-1# 

Etwas, was du gesagt hast, ist natürlich spezifisch für Liechtenstein, und das sind die Leserbriefe. Die Leserbriefe sind sicher ganz, ganz – ich würde nicht sage wichtig für Liechtenstein, aber sehr präsent. Das hat man jetzt auch bei der Thematik S-Bahn gesehen. Das Vaterland hat eine Zählung der Leserbriefe gemacht: Es waren über 200 Leserbriefe alleine zur S-Bahn. Wenn man das Verhältnis angeschaut hat, hat es nicht ganz die Realität abgedeckt. Die Kontra-Seite hatte glaube ich 53 % und die Pro-Seite 47 %, der Wahlausgang war in der Realität noch etwas kritischer. #00:22:58-3# 

Die Leserbriefe sind etwas typisches für uns und dabei vor allem die ungefilterten Leserbriefe. Wenn ich es mit anderen Ländern vergleiche habe ich beispielsweise in der NZZ zwei oder drei Leserbriefe und das oft pro Woche. Und bei uns kann wirklich jeder einen Leserbrief in die Zeitung bringen. Die Idee, weshalb viele bei uns die Leserbriefe schätzen, weil sie den Zeitungen eine gewisse Unabhängigkeit absprechen und das Gefühl haben, Leserbriefe seien das Einzige, was authentisch und eben nicht feingeschliffen ist, und eben auch das einzig Unabhängige, das einzig Investigative. #00:23:47-8# 

Ich denke das ist eine Überschätzung der Leserbriefe. Das ganze hat sicher einen wahren Kern. Früher hat es sicher auch viele wertvolle Leserbriefe gegeben, das gibt es heute immer noch. Aber wie du vorher gesagt hast gibt es auch eine gewisse Clusterbildung, immer dieselben Personen, sie referenzieren in der Zwischenzeit sogar auf sich selber, wodurch die Leserbriefe sicher auch an Relevanz verloren haben. Es ist eine Teilöffentlichkeit, irgendwo auch eine Filterblase geworden. Trotzdem schaffen es die Medien nicht, das in irgendeiner Form einzuschränken. Doris Quaderer hat das als Chefredaktorin beim Volksblatt einmal versucht und dann einen riesen Sturm gegen sich bekommen. Die Medien haben das eigentlich intern beide miteinander abgesprochen, das Vaterland hat das dann einfach nicht getraut, diesen Schritt zu machen und nachdem das Volksblatt so negative Reaktionen bekommen haben trauten sie sich umso weniger, diesen Schritt zu machen und man hat auch gemerkt, dass die Leserbriefe scheinbar noch wichtig sind. #00:24:49-8# 

Wenn man allgemein unsere Öffentlichkeit anschaut sieht man, dass die Medien noch immer  sehr wichtig und entscheidend sind. Wir haben kürzlich vom Liechtenstein-Institut aus eine Umfrage darüber gemacht, wo Informationen zu Corona bezogen wurden, wobei unsere Printmedien ganz, ganz vorne mit dabei waren. Gerade wenn es darum geht, zu versuchen, sich seriös zu informieren, sind unsere Printmedien zentral. #00:25:15-1# 

Was dann konkret in den Printmedien gelesen wird, darüber haben wir keine Angaben. Es ist so, dass Leserbriefe auf einen Meinungsbildungsprozess relativ wenig Einfluss haben. #00:25:29-4# 

Dann ist auch Facebook auch eine wichtige Grösse. Wie wichtig wissen wir aber nicht genau – wir haben es nie genau angeschaut aber Liechtenstein ist noch immer ein bisschen ein Facebook-Land. In anderen Ländern ist Facebook eher überholt, vor allem was politische Debatten angeht. Allgemein sagt man international, dass neue Medien nie diesen Einfluss haben, den man ihnen in politischen Debatten immer wieder unterstellt. Also nur 3 % davon, was in social Media gepostet wird, haben einen politischen Bezug. Die Wirkung bekommen sie meistens erst über die klassischen Medien. Also die Twittermeldung von Trump ist als solches noch nicht viel wert. Viel wichtiger ist, dass darüber im Fernsehen oder in den Zeitungen berichtet wird, damit bekommt die Thematik eine gewisse Streuung. #00:26:18-1# 

Bei uns sieht man, dass die meisten Politiker in den Social Media eher abstinent sind. Sie haben Social Media aber sie nutzen sie nicht wirklich für die Politik. Es wird jetzt interessant sein zu beobachten, wie es dann im Wahlkampf ist – ob es dort aktiver genutzt wird oder nicht. #00:26:31-7# 

Wir haben auch schon im Abstimmungskampf zur S-Bahn oder Halbe/Halbe gesehen, dass beide Seiten auch auf YouTube oder Facebook präsent waren. Da hat man schon gesehen, dass es wahrscheinlich genutzt wird. Der Einfluss ist schwierig, weil man auch in anderen Belangen gesehen hat, dass sich der Liechtensteiner ja auch schlecht beeinflussen lässt. Der Liechtensteiner informiert sich zwar, liest die Zeitung, hat insgesamt gar keine so schlechte Meinung von den Zeitungen – Umfragen zeigen, dass sie der Qualität zusprechen, auch der des Radios. Ich denke das ist auch zurecht so, im Kontext dieser Kleinräumigkeit ist das kein schlechtes Produkt, das hier täglich hergestellt wird. Aber wenn man fragt, wie hat jetzt der Abstimmungskampf jetzt auf eure Meinungsbildung eingewirkt, dann ist es eigentlich von vornherein klar gewesen, wie ich abstimme. Das ist eigentlich ziemlich typisch für den Liechtensteiner. Und so ist es auch schwierig, wie Öffentlichkeit überhaupt Einfluss nehmen kann. Und bei den Informationskanälen überrascht es deshalb eigentlich nicht, dass das wichtigste immer noch die persönlichen Gespräche die in der Familie oder im Freundeskreis sind. Dort wird Öffentlichkeit gemacht aber es ist meistens eher ein etwas kleiner Kreis. #00:28:02-0# 

Um den Bogen jetzt wiedermal zurück zur Eingangsfrage zu schlagen, inwiefern am Volk vorbeipolitisiert werden kann: Es ist generell zu fragen, inwieweit überhaupt von einem Volksbegriff gesprochen werden kann. Ich denke wir sind heute wirklich so pluralistisch, dass man mit dem Begriff sehr vorsichtig sein sollte. #00:28:32-3# 

Das ist einmal der eine Kritikpunkt. Der andere Punkt ist: Nein, im Abstimmungskampf ist klar nicht am Volk vorbei politisiert worden. Das ist ja auch der Sinn und der Zweck des Abstimmungskampf, dass er eine Debatte generiert, eine Öffentlichkeit schafft und dass auch öffentlich diskutiert wird. Die Schwierigkeit für die Politik besteht darin herauszuspüren, an welcher Teilöffentlichkeit sie sich orientieren sollen. #00:28:56-7# 

Dazu auch nochmal ein Beispiel, zu dem ich etwas weiter ausholen muss. Vor einem Jahr haben wir eine Umfrage als Grundlage für das Mobilitätskonzept gemacht. Da hat es geheissen, dass sich ein Grossteil der Leute eine S-Bahn grundsätzlich vorstellen kann. Damals war es noch ganz unverbindlich, aber man konnte es sich vorstellen und es gab grundsätzlich eine positive Haltung. Das hat die Regierung dann auch motiviert das Thema aufzugreifen und voranzutreiben. #00:29:25-7# 

Dann haben wir jetzt direkt vor der Abstimmung eine Umfrage gemacht. Wenn mann da rein die ungewichteten Zahlen anschaut – wir arbeiten natürlich nie mit den ungewichteten Zahlen – dann war es ein ganz knappes Resultat. Dabei waren sogar eher mehr dafür als dagegen. Weil man aber gesagt hat, dass so eine Abstimmungsumfrage mehr politisch Interessierte wahrnehmen und die eher pro S-Bahn waren und man versucht hat, die dauernde Unterrepräsentation von DU und DPL-Wählern, die wir immer bei solchen Umfragen haben, und das korrigiert hat, hat man klar gesehen, dass es ein klares Nein gibt. #00:30:11-7# 

Die Schwierigkeit, die die Politik hier hat – wenn die Politik die Meinungen abholen möchte, wo soll sie das tun? Soll sie an den Stammtisch gehen, soll sie Umfragen machen, soll sie mehr Facebook-Stammtisch-Analysen machen – das ist die Herausforderung. Ich denke es braucht von allem ein bisschen etwas, und darum braucht es von allen auch diese Toleranz, dass sie diese verschiedenen Öffentlichkeiten und öffentlichen Arenen akzeptieren und auch miteinander interagieren lassen. #00:30:44-0# 

Das ist meinerseits noch nicht ganz das Schlusswort. Vielleicht möchte ich einen einzigen Satz noch zu den Medien sagen, weil die traditionellen Medien wirklich das Zentrale in der Öffentlichkeit bei uns sind. Die Herausforderung, die wir hier in dieser liechtensteinischen Kleinräumigkeit haben: Die Medien kämpfen zum einen mit dem Ressourcenmangel, dann kämpfen wir mit einer verstärkten sozialen Kontrolle und damit verbunden kämpfen wir auch mit der fehlenden Authentizität. In anderen Ländern, wo Radio und Fernsehen viel wichtiger sind, kannst du den Politiker viel stärker abholen und er kann es nicht mehr korrigieren. Bei uns gibt es das ganz, ganz selten. Eine Aussage, die Adrian Hasler letztes Jahr im Zusammenhang mit Aurelia Frick mit dem Hosen runterlassen gemacht hat und dafür auch scharf kritisiert wurde – so etwas wäre in einem schriftlichen Interview fünf mal durchgestrichen worden, das wäre nie durch den Filter gegangen. Und das ist etwas, was man den Zeitungen bei uns immer wieder vorwirft und wo deshalb auch der Bedarf Formaten wie Leserbriefen da ist, dass man einfach merkt, dass es geschliffen ist. Das ist sicher eine Herausforderung. Neben der Herausforderung, wo man alle Teilöffentlichkeiten noch zusammenbringen kann, wäre das sicher etwas zentrales: Wo kannst du diese Authentizität wieder hineinbringen. Das wäre es jetzt von meiner Seite.


– #00:32:26-5# 

Jetzt haben wir viele verschiedene Ideen und Entwicklungsschritte dieser Öffentlichkeit mitbekommen und Christian hat uns sehr plastische Beispiele genannt, wie sie in Liechtenstein gelebt oder eben nicht so gelebt wird. Wie ihr uns kennt dürft ihr jetzt auch noch etwas mitmachen. #00:33:06-6# 

Wie ihr seht haben wir zwei verschiedene Farben Zettelchen vorbereitet. Wir würden jetzt einfach eine Runde zu zwei verschiedenen Themengebieten machen. In einem ersten Schritt interessiert uns, wo es für euch momentan Orte, auch Räume in einem abstrakten Sinn, gibt, wo ihr Menschen zufällig begegnet. Das kann ein Ort sein, wo ihr euch ohne es es geplant zu haben austauscht oder die für eure Meinungsbildung eine Rolle spielen. Das dürftet ihr auf das weisse Kärtchen schreiben. #00:34:16-9# 

Beim zweiten Kärtchen ginge es darum, was man sich im Sinne von Treffpunkten oder Möglichkeiten, um diesen Austausch oder diese Diskussionskultur noch besser leben zu können. #00:34:41-7#

Damit es für euch klarer wird gebe ich euch vorab gerne ein Beispiel. Ich habe mir dann auch überlegt, was für Orte für mich als solche Treffpunkte funktionieren, wo ich auch einmal mit Menschen ins Gespräch komme, die ich in meiner Alltagsblase sonst nicht so antreffe. Ich bin auf zwei Orte gekommen: Einer ist der Küchentisch meiner Nana. Es ist recht lustig, wie divers unsere Verwandtschaft ist. Es ist auch ziemlich unterschiedlich, wer gerade dort ist. Nana ist immer dort aber sonst ist unsere Familie recht unterschiedlich sozialisiert und je nachdem wer sonst noch so dort ist entstehen dann immer wieder sehr spannende Begegnungen und Austausche. #00:35:22-2# 

Ein Ort, der wirklich ausserhalb dieser familiären Öffentlichkeit ist, ist für mich Mausis Marroni in Schaan. Dort finde ich es auch immer wieder spannend, was für Sichten auf die Welt man dort mitbekommt. #00:35:53-8# 

Ich habe mir zwei Sachen aufgeschrieben. Eigentlich sind es zwei offensichtliche Sachen. Die erste gefällt mir, die zweite finde ich eher bedenklich. Wahrscheinlich bilde ich mir ziemlich viele Meinungen in der eigenen Familie und im Freundeskreis. Der Freundeskreis wäre für mich bei den Pfadfindern Schaan, weil das auch so ein lustiger Kreis ist, wo es recht viele verschiedenen Meinungen gibt und man nicht zusammensitzt weil man die gleiche Meinung hat, sondern weil man sich halt schon seit 200 Jahren kennt. Dann musst du halt über etwas reden und irgendwann kommt dann auch die Politik, und da scheiden sich die Geister dann immer auch wieder. #00:36:57-0# 

Mein zweiter Punkt zielt auf das ab, was du in deinem Referat angesprochen hast Christian, nämlich dass die Meinung vor dem eigentlichen Abstimmungskampf eigentlich schon gebildet war. Es ist ja irgendwie noch schwierig nachzuverfolgen. Irgendwo muss sie ja entstehen, in einer Familiendiskussion oder sonst irgendwo, bevor ein Thema in der Zeitung verhandelt wird. Oder ist es so, dass man sich gewissermassen mit einer Ideologie oder einer Partei assoziiert und aufgrund dessen die Meinung eigentlich schon klar ist. Also dass man dann nur noch darüber nachdenkt, wohin man gehört und die Meinung dann eigentlich schon klar ist. #00:37:33-4# 

Ich bin dann drauf gekommen, dass ich mir wahrscheinlich schon viele Meinungen dadurch, dass ich das Vaterland oder das Volksblatt im Internet lese oder 1FLTV schaue – und das wäre allein, daheim im Internet – was ein etwas unsexy öffentlicher Raum ist, in der Realität aber doch existiert. #00:38:03-0# 

Für mich ist es natürlich auch das Vaterland, der Tagesanzeiger und weil ich mich der Freien Liste nahe fühle orientiere ich mich automatisch dort bei Dingen, bei denen ich mir nicht so sicher bin. Das andere sind Gespräche. Ich schätze es eigentlich, wenn man nicht einer Meinung ist – aber unter Freunden ist das recht schwierig, dort ist man ja oft ein bisschen einer Meinung – und da ist die Verwandtschaft manchmal ziemlich wertvoll. Die sucht man sich ja nicht aus und doch redet man miteinander. Das finde ich auch richtig. Man muss einfach aufpassen, dass man nicht zu einseitig wird. #00:39:06-6# 

Bei mir ist es sehr ähnlich. Die Zeitungen, die Partei, auch die Freie Liste. Dann die Arbeit: dadurch dass ich im Baugewerbe tätig bin verkommen mir dort Menschen, die mir in der Freizeit nicht begegnen, in der Arbeit aber eben schon. Dort höre ich oft Meinungen, die sehr anders sind als meine. Darum habe ich auch schon vor eineinhalb Monaten fast gewettet, dass es ein dreimal Nein gibt: Weil ich einfach noch eine andere Welt kennengelernt habe. In meinem Freundeskreis ist man sich darüber relativ einig. #00:39:54-0# 

Dann habe ich noch seit gut fünfzig Jahren einen Stamm, wo zwanzig alte Stammfreunde zusammenkommen. Dort hat sich etwas fundamental geändert: Weil wir früher so viel politisiert haben und so viel Krach bekommen haben und je älter desto empfindlicher werden, dass wir politisch fast nicht mehr diskutieren. Jetzt macht jeder seine Geschichte und es gibt wenig Auseinandersetzung. #00:40:26-4# 

Das wichtigste für mich: Der öffentliche Raum als Meinungsbildung gibt es für mich nicht, den kenne ich nicht. Es gibt keinen Dorfplatz, wo ich hingehe – du gehst zum Mausi, ich nicht – also ich erlebe keine Räumlichkeit in der Öffentlichkeit, wo ich mir meine Meinung bilde. #00:40:48-4# 

Auch nicht als du jünger warst, als der Stamm beispielsweise gegründet worden ist? Hat sich seither etwas geändert in Liechtenstein? #00:40:40-9# 

Nein, dann war es halt in der Beiz. Aber ein öffentlicher Raum, dass man einen Dorfplatz machen könnte, wo man zu diskutieren anfangen könnte, dann müsste man eine Landsgemeinde machen. Sonst geht das in meinen Augen nicht. Du kannst Plätze bauen so viele du willst aber entweder sind sie gepflastert oder betoniert. Deswegen passiert noch lange nichts. Vielleicht sind Räume wie der Mausi die einzige Chance. Wenn man informelle Geschichten passieren lässt. Der Mausi war ja auch einmal recht informell. Er wird natürlich immer formeller je älter er wird. #00:41:29-3# 

Ein Beispiel: Einmal hat irgendeiner in Zürich an einer Postautohaltestelle bei einer Brücke angefangen, Kaffee zu verkaufen und später noch Gipfile. Alles illegal, mit ein kleinen Ständchen, das so gross war, dass er noch fortrennen konnte. #00:41:49-4# 

Bei mir ist es nicht viel anders. Ich gehe meistens zuerst einmal in der Familie nachfragen, bei der S-Bahn habe ich gleich mal Luis gefragt, was man hier abstimmen solle. Und Freunde, wobei es in meinem Freundeskreis durchaus auch einige Leute gibt, die anderer Meinung sind als ich, was dann auch interessant ist. Sonst lese ich schon die Zeitungen um zu sehen, was auch im Land läuft. Bei dieser Abstimmung hatte ich schon das Gefühl, dass man die verschiedenen Positionen schon sehr gut herauslesen konnte, wie repräsentativ diese auch immer sein mögen. #00:42:36-3#

Bei mir ist es auch ähnlich. In Familie und Freundeskreis ist es immer recht einfach und unemotional, Dinge zu diskutieren. Ansonsten gehe ich noch klettern mit Leuten, die vielleicht auch aus anderen Kontexten kommen als ich. Dort entstehen auch immer wieder gute Gespräche über ganz andere Ansichten. Das, was einem verbindet ist dort ja nicht die Politik oder das Umfeld sondern der Sport an sich. Das finde ich noch sehr interessant. #00:43:07-2# 

Ich kann mich den Vorrednern auch nur anschliessen. Wo ich sonst noch Leute treffe, wo man eigentlich immer Leute trifft und noch einen Schwätz duat – ist im Einkaufsladen. Stellt sich die Frage, inwieweit man sich darüber informiert. Aber jedes Mal wenn du in den Laden gehst siehst du wieder jemanden, den du schon lange nicht mehr gesehen hast. Das ist dann vielleicht jede Woche oder alle zwei Wochen jemand neues, und dann gibt es einen kleinen Schwatz. #00:43:40-6# 

Das ist für mich so ein bisschen der öffentliche Ort, wo man Leute, die man nicht dauernd sieht, trifft und das recht regelmässig. #00:43:51-9# 

Ich habe nichts neues. Ich habe eigentlich die gleichen Sachen. Daheim am Küchentisch oder in der Schmetta im Pfarrheim. Wobei ich einfach noch finde, dass der Küchentisch mein Küchentisch, der meiner Eltern, der meiner Freundin – das läuft für mich eigentlich auf dasselbe hinaus. #00:44:06-5# 

Auch völlig unspektakulär: Man bildet sich halt seine Meinung im Umfeld, und das ist in einem Verein, wenn man aktiv in einem Verein ist. Sonst bin ich nicht so „altmodisch“ und habe keine Zeitung sondern informiere mich eher im Internet und da gehst du eher in eine Richtung oder informierst dich in eine Richtung, wo du denkst, es könnte dich ansprechen. #00:44:41-8# 

Öffentlicher Raum ist für mich, wenn du zufällig mit Leuten in Kontakt kommst. Ein gutes Beispiel ist für mich da der Skilift in Malbun. Zwischen Weihnachten und Neujahr kennst du zwar Leute, weisst aber nicht recht – es lächelt dich einer an aber du denkst es könnte noch ein Deutscher sein – aber wenn die Ferien vorbei sind, sind nur noch die Liechtensteiner drinnen oder die Malbuner. Ich bin überhaupt nicht der Malbuner, ich bin in Balzers daheim, gehe aber doch gerne zum Skifahren hinein und dort entstehen eigentlich ganz gute Gespräche mit wildfremden Leuten, die du eigentlich noch nie gehört hast. Es ist nicht nur Smalltalk, zum Teil sind es vertiefte Gespräche, zum Teil auch emotional – ich finde es cool. #00:45:38-6# 

Und natürlich der Verein. Ich bin in Balzers im Turnverein, schon seit ich klein bin. Da kommen auch „Öberrhiner“, die dort kommen und dann wieder ganz eine Meinung haben. Und ich finde es auch wichtig, dass man all diesen Meinungen ihren Platz lässt und sich daraus dann auch eine Meinung bildet. Auch wenn sich meine Frau und ich dann auch am Küchentisch aufregen wegen dreimal nein. Es ist einfach – wir sind vielleicht auch eine Generation der Nein-Sagenden. Nichts neues. Ein kleines Land, aber kein Fortschritt. #00:46:25-8# 

Ich habe sonst eigentlich auch nicht viel neues. Mir ist auch der Verein in den Sinn gekommen. Was mir in der letzten Zeit aufgefallen ist, seit der Prinzenbräu seinen Schulbus manchmal aufstellt, kommen dort auch Leute zusammen, die sonst nicht unbedingt zusammenkommen. Und dort kommen auch wieder Gespräche zustande im öffentlichen Raum, wie du vorher erzählt hast, dass du sie auf dem Skilift hast. Damit ist dort vielleicht wieder ein neuer Ort entstanden, wo etwas ins Rollen kommen könnte. #00:47:03-2# 

Vielleicht noch eine Ergänzung. Wir sind in der Schweiz in den Ferien gewesen und es ist lustig, man versteht alle. Und man hat auch dort Diskussionen, es geht jetzt nicht unbedingt um Politik aber man kommt sehr schnell ins Gespräch mit Menschen, mit jung und alt, und das finde ich eigentlich noch schön, das hat für mich auch eine Qualität. #00:47:25-3# 

Ich lebe auch etwas in einer Blase. Wenn du kleine Kinder hast, bist du irgendwie etwas beschränkt. Dann gehst du zum Kindergarten, wo Gespräche mit anderen entstehen, die nicht zu deiner Verwandtschaft oder deinem üblichen Kreis gehören aber du etwas mit anderen Meinungen in Kontakt kommst. Ich war auch so eine dreimal Ja-Sagerin und bin dann irgendwie aus meiner Blase hinausgefallen. Ich lese schon Leserbriefe aber es ist ganz anders herausgekommen, wie ich es mir erwartet habe. Da habe ich schon gemerkt, dass ich da so richtig…beschränkt bin, ja. #00:48:38-8# 

Das ist mir auch so gegangen. Aufgrund von Corona habe ich gemerkt, wie wenig sich für mich zum Teil geändert hat. Dass ich genau diese Blase erlebt habe: Meinungsbildung findet für mich zum einen am Küchentisch meiner Tante statt, weil ich ab und zu dort zu Mittag esse. Oder wenn ich mit meinen Kollegen, die ich schon lange kenne, wir alle zwei Monate unseren Männerabend haben. Diese Leute haben sich teilweise in völlig andere Richtungen entwickelt, die Meinungen sind komplett anders, aber dort sind eigentlich diese Räume, wo man sich austauscht und wo man recht offen ist und weil man sich so gut und lange kennt dieser Austausch stattfinden kann. #00:49:15-3# 

Was ich in Liechtenstein noch interessant finde: Das Schema dort drüben mit den Leitungen finde ich sehr gut. Ich sehe es etwas so: Früher hattest du einen Zwang auf den Dorfplatz zu gehen, du hast Wasser geholt. Diese Leitung sehe ich genau dort: Als das Wasser in die Häuser gelegt wurde, ist das eigentlich weggefallen und jetzt haben wir keinen Zwang mehr, um überhaupt auf den Dorfplatz zu gehen. Vielleicht müsste man hier fast wieder einen Zwang erfinden, um gewisse Sachen anzuregen. #00:49:57-5# 

Was in Liechtenstein im öffentlichen Freiraum auch spannend ist: Ohne Bier oder Kaffee, wenn man nichts kaufen kann, ist es ganz, ganz schwierig, den Liechtensteiner vor die Tür in den öffentlichen Freiraum zu locken. Der Liechtensteiner ist sich das noch nicht so gewohnt und da gibt es vielleicht auch noch Dinge, die man bewusst steuern oder eben nicht steuern kann. #00:50:28-0# 

Ich gehe den Leuten eher aus dem Weg muss ich sagen. Ich habe nicht wahnsinnig viel Austausch. Ich bewege mich in einer Blase, und die Leute, die ich treffe und kenne, denken dann auch etwas ähnlich. Was mir jetzt aber grad auch in den Sinn gekommen ist: Man liest ständig, wir bräuchten Orte, wo wir uns treffen könnten. Anscheinend wollen wir uns ja alle die ganze Zeit treffen. Und wir haben ja keine Orte, wo wir uns treffen können. Für mich hinterlässt das auch noch grosse Fragezeichen: Ob wir uns denn überhaupt alle immer austauschen und treffen wollen? Also ich nicht. #00:51:08-7# 

Also man kann sich schon treffen, wenn man das will. Aber wenn man künstlich einen Ort schafft und sagt, da trefft euch jetzt glaube ich nicht, dass das funktioniert. #00:51:18-6# 

Bei mir ist es so, dass ich durch meinen Beruf einer enormen Informationsflut ausgesetzt bin, weil ich wahnsinnig viele Zeitungen und ganz viele verschiedene Zeitungen lese. Meine Meinungsbildung findet deshalb überhaupt nicht in der persönlichen Interaktion statt. Für mich ist es wirklich eher, ähnlich wie bei Ruth, dass ich dann weg gehe, in die Natur und Freiraum brauche, wo ich mir selbst versuchen kann, mir aus all diesen Positionen selbst eine Meinung zu bilden. #00:52:00-2# 

In meinem Beruf ist es einfach wahnsinnig wichtig, dass ich immer beide Seiten aufnehmen. Dass ich genauso den Blick lese, auch in Foxnews gelegentlich hineinschaue wie auch auf die andere Seite und damit versuche, dieser Filterblase zu entkommen. Das ist auch wichtig: Wenn ich mir beispielsweise den Abstimmungskampf zur S-Bahn angeschaut habe, haben sich beide Seiten gegenseitig Fake-News vorgeworfen, wobei ich das nicht teilen kann. Es sind natürlich keine Fake-News gewesen, auf beiden Seiten. Es ist auf beiden Seiten einfach zu Zuspitzungen gekommen und was entsprechend zu plakativen Argumenten geführt hat. Und da ist es mir einfach wichtig, dass ich versuche, diese Fähigkeit zu bewahren, etwas Distanz zu beiden Lagern zu schaffen. #00:52:51-6# 

Dann ist es einfach auch so, dass es für mich in den letzten Jahren immer schwieriger geworden ist, persönlich überhaupt noch eine politische Meinung zu haben. Wenn ich an mein Kernforschungsprojekt, die europäische Integration, denke, könnte ich 10 oder 20 Argument liefern, dass der EWR sehr schlecht für unsere Souveränität und unsere Demokratie ist und genauso kann ich 10 oder 20 Argumente bringen, dass er sehr gut für uns ist. Und was dann wirklich meine persönliche Meinung ist, ist dann wirklich von meinen Werthaltungen abhängig, und diese finde ich eben, wenn ich mich dieser Debatte einmal entziehe und einmal für mich alleine bin. #00:53:36-5#